Impuls zum Einkehrtag der Gemeinschaft Charles de Foucauld in Siegburg im März 2004 

In der Gemeinschaft Charles de Foucauld gibt es immer für je zwei Jahre ein Thema, das die einzelnen Gruppen in ganz Europa zum Gespräch anregen soll. Für die Jahre 2003/2004 lautete das Thema "Charles de Foucauld - ein Prophet des Friedens".

Anlässlich eines Einkehrtages der Gemeinschaft in Deutschland hielt Marianne Bonzelet (Mitglied der Gemeinschaft Charles de Foucauld) folgenden Impuls:


Am Frieden bauen


Das für 2003/04 vorgeschlagene Unterthema "Friedensstifter werden" habe ich für den heutigen Tag umformuliert in "Am Frieden bauen". Es ist ein sehr weites Thema. Um es einigermaßen handhabbar zu machen, scheint mir die Methode SEHEN - URTEILEN - HANDELN gut geeignet zu sein. (Kardinal Cardijn, Christliche Arbeiter Bewegung).

In einem ersten Schritt geht es also darum, den Blick auf die Realität zu werfen, die uns umgibt. Was nehme ich an Gewalt, Unfriede, Friedlosigkeit, Ungerechtigkeit in meinem eigenen Umfeld wahr?
(Zeit zum Nachdenken - Gedanken auf Zetteln festhalten - Zettel auf ein Holzkreuz heften - keine Bewertung! Einfach nur wahrnehmen!)

Frieden stiftende Aspekte / Elemente im Leben und der Spiritualität von Charles de Foucauld
Wir leben hier in Deutschland in sehr sicheren Verhältnissen. Um so wichtiger ist es für uns, genau hinzuschauen, aufmerksam dafür zu werden, wo der alltägliche "Kleinkrieg" um uns herum tobt und wie wir selbst in die weltweiten friedlosen Zusammenhänge verstrickt sind:
Kleidung, die in Billiglohn-Ländern hergestellt wurde;
Coltan im Handy ist Anlass zum Krieg im Kongo;
Geldanlage bei Ethik-Banken....

Im Gespräch in den Kleingruppen wird es im Laufe des Tages darum gehen, diese Wahrnehmung in das Licht des Evangeliums zu stellen und miteinander zu schauen, ob wir angesichts der Lage nur resignieren können oder welche Möglichkeiten wir für uns sehen, am Frieden zu bauen. Vielleicht tun wir es ja auch schon, ohne es ausdrücklich so zu benennen.
Als Mitglieder der Gemeinschaft Charles de Foucauld sollten wir darüber hinaus schauen, in welcher Weise uns Charles de Foucauld ein Vorbild sein kann. Dazu können wir zum einen sein Leben, seine Erfahrungen, in den Blick nehmen; zum anderen lohnt ein Blick in den "Weg der Einheit", der so etwas wie die Grundsatzerklärung der Gemeinschaft weltweit darstellt. Typisch für die Spiritualität Charles de Foucaulds scheint mir die Verbindung der Leidenschaft für Gott mit der Leidenschaft für die Menschen und die daraus resultierende dynamische Wechselbeziehung zwischen Kontemplation und Aktion. Beides gehört immer notwendig zusammen. Keiner der beiden Aspekte darf vom anderen verzweckt oder auf den anderen reduziert werden.
Die Leidenschaft für die Menschen erfährt im Stichwort "Nazaret" eine entscheidende Konkretisierung.
Nazaret steht dafür, dass Gott sich so sehr mit der Welt verbunden hat, dass er nichts Besseres zu tun hatte, als den größten Teil seines Lebens in einem ganz unbedeutenden, verrufenen Nest der Weltgeschichte zuzubringen.
Es steht andererseits auch für die Gegenwart Gottes im Niedrigen und Alltäglichen der Welt. Foucauld erkannte aber im Laufe seines Aufenthalts in Nazaret, dass das Leben von Nazaret nicht an diesen konkreten Ort gebunden ist, sondern an jedem Ort der Welt geführt werden kann. "Das Leben von Nazareth führen, aber nicht im so sehr geliebten Heiligen Land, sondern unter den Menschen, die die kränksten und hilflosesten sind."
"Nazaret" wird zu einer Lebenshaltung, einer Art Lebensmodell. (Die Nazaretzeit 1998 in Biber stand unter dem Thema: "Nazaret - ein Lebensmodell für Normalverbraucher"). Nazaret als Lebenshaltung mündet für Bruder Karl in dem Wunsch, der Bruder aller Menschen zu werden.
Aber was heißt es: Wie Jesus in Nazaret zu leben? Es kann heißen: sich bemühen, ein solidarisches Miteinander zu verwirklichen in Familie, im Beruf, in der Nachbarschaft... Nazaret wird zum Ort des geschwisterlichen Zusammenlebens.
Charles de Foucauld war zeitlebens bemüht, Brüder zu finden, mit denen er das verwirklichen konnte. Für Bruder Karl wird "Nazaret" zu einer Art Synonym für das Leben geschwisterlicher Beziehungen getragen von einem Geist des Dienens und der Einfachheit. "Nazaret leben" bedeutet u.a.
- die eigenen Grenzen wie die der anderen akzeptieren,
- den Menschen ohne Vorurteile begegnen,
- jedem die ihm bzw. ihr zustehende Würde auch zukommen lassen
- im anderen (wie auch in sich selbst) das Positive sehen
- ein einfaches Leben

Für Charles de Foucauld ist eine in diesem Zusammenhang wichtige Tugend die Gastfreundschaft, das offene Haus. Nazaret ist nicht der Ort großer Aktionen und Programme, sondern der Ort, wo Menschen geschwisterliche Beziehungen verwirklichen. "Ich bin derart mit äußeren Geschäften überhäuft, dass ich keinen Augenblick Zeit mehr zum Lesen habe, auch nicht viel zum Meditieren. Die armen Soldaten kommen ständig zu mir. Die Sklaven füllen das kleine Häuschen, das man für sie hat errichten können, die Reisenden kommen geradewegs zur "Bruderschaft", die Armen sind reichlich vorhanden ... Alle Tage Gäste zum Abendessen, schlafen, Frühstücken; es war noch nie leer, bis zu elf Leute in einer Nacht, ungerechnet einen alten Siechen, der immer da ist; ich habe zwischen sechzig und hundert Besucher am Tag."
Mit Bruder Karl haben verschiedene Menschen die Erfahrung gemacht, dass sie als einzelne von ihm angenommen und respektiert werden. Er nimmt sich Zeit für den einzelnen, seine persönlichen Nöte und Schwierigkeiten. Er ist sich nicht zu schade, in einem seiner Briefe nach Frankreich um Stricknadeln für die Tuaregfrauen zu bitten.
Nazaret leben heißt für Charles de Foucauld auch, das Leben mit offenen Sinnen wahrzunehmen und daraus resultierend einzutreten für die Rechtlosen, die Schwächeren, die Armen. In Anlehnung an ein Zitat des Propheten Jeremia schreibt Foucauld in einem Brief: "Wir haben nicht das Recht, stumme Hunde zu sein." Leidenschaft für die Menschen nimmt wahr, wo Ungerechtigkeiten bestehen oder entstehen und fordert unser Eintreten - ganz im Sinne von Mt 25: "Was ihr dem Geringsten meiner Brüder getan habt, das habt ihr mir getan."

In Beni-Abbès entdeckt Charles de Foucauld, dass es immer noch die Sklaverei gibt - und das, obwohl die (zivilisierten) Franzosen im Land sind. Aber es geschieht mit ihrer Billigung. Charles de Foucauld sieht im Kampf gegen die Sklaverei die erste menschliche und missionarische Arbeit, die er in Beni-Abbès ausführen muss, und zwar mit aller ihm eigenen Leidenschaft. Zugleich ist er Realist genug, um die Widerstände und Hindernisse vorauszusehen. "Man muss mit Widerspruch von allen Seiten rechnen und mit sehr großen Enttäuschungen (Widerspruch und Schwierigkeiten von Seiten der französischen Behörden und der arabischen Herren; Enttäuschungen auf Seiten der armen Leute)."
Bruder Karl begnügt sich nicht damit, die Situation mit aller Klarheit zu erkennen und seine kirchlichen Oberen zu benachrichtigen: er macht sich selbst an die Arbeit. "Für die Sklaven", so schreibt er in einem Brief, "habe ich einen kleinen Raum, wo ich sie unterbringe und wo sie ein Nachtlager, Zuflucht, das tägliche Brot und Freundschaft finden." Und in einem Brief an Monsignore Guérin: "Wir haben nicht das Recht, stumme Hunde und stumme Schildwachen zu sein: uns kommt es zu, Lärm zu schlagen, wenn wir dem Übel begegnen, und laut zu verkünden: Non licet und Vae vobis hypocritae (Das ist nicht erlaubt, wehe euch Heuchlern!) .. Mir scheint, wir dürfen uns nie mit dem Übel abfinden, sondern müssen es mit aller Kraft bekämpfen."
An den Abt von Notre-Dame des Neiges schreibt er: "Man muss sagen - oder durch Berechtigte sagen lassen: Ihr, die ihr auf die Briefmarken und überallhin druckt: "Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, Menschenrechte", und die ihr den Sklaven die Fesseln schmiedet, die ihr diejenigen zur Galeere verdammt, welche eure Banknoten fälschen, und erlaubt, Kinder ihren Eltern zu stehlen und sie öffentlich zu verkaufen, die ihr den Diebstahl eines Huhnes bestraft, aber den eines Menschen erlaubt (tatsächlich sind fast alle Sklaven dieses Gebietes frei geborene Kinder, die ihren Eltern gewaltsam entführt wurden)!... wir sollen uns nicht in die weltliche Regierung einmischen - keiner ist davon mehr überzeugt als ich - aber wenn die weltliche Macht sich eine schwere Ungerechtigkeit zuschulden kommen lässt gegen jene, für die wir in einem gewissen Umfang die Verantwortung tragen, muss man es ihr sagen, denn wir sind es, die auf Erden die Gerechtigkeit und die Wahrheit repräsentieren... Ich habe den Apostolischen Präfekten benachrichtigt, das genügt vielleicht..." "Keine menschliche Macht hat das Recht, Fesseln für diese Unglücklichen zu schmieden, die Gott ebenso frei geschaffen hat wie uns."

"Nazaret leben" heißt mit den Benachteiligten gegen Unterdrückung, Gewalt und Armut anzukämpfen. Aber wer sich mit den Benachteiligten einsetzen will, muss mit ihnen ins Gespräch kommen. Der Dialog ist ein wichtiger Schritt zum gegenseitigen Verständnis. Und wichtige Vorraussetzung für einen gelingenden Dialog ist das Zuhören. Kennzeichnend für die "Missionsarbeit" Bruder Karls ist es, dass er nicht mit einem fertigen Programm bei den Tuareg erscheint, sondern mit ihnen lebt, mit ihnen im Gespräch ist, ihren Alltag teilt und auf diese Weise ihre Sorgen und Nöte zu seinen eigenen macht. Außerdem lernt er die Sprache der Tuareg. So gliedert er sich allmählich in die ansässige Bevölkerung ein und schließt echte Freundschaften. Er gehört bald einfach dazu und tut an seinem Platz, was er aufgrund seiner Kenntnisse und seiner Beziehungen zu den französischen Offizieren tun kann, damit das allgemeine Wohl, das Zusammenleben von Einheimischen und Militärverwaltung möglichst erträglich gestaltet werden kann. Mit Mussa Ag Amastane, dem Oberhaupt der Tuareg, schließt er echte Freundschaft. Mussa macht Bruder Karl zu seinem geistigen Führer!

Charles der Foucauld gehört zu denen, die erkannt haben, dass Veränderung von Strukturen bei der eigenen ständigen Bekehrung anfangen muss. Obwohl bei alledem nicht ausdrücklich vom Einsatz für den Frieden die Rede ist, scheint in all diesen Aspekten die Herausforderung durch, am Frieden zu bauen, und sie ist eng verbunden mit der Anstrengung ein Bruder / eine Schwester aller zu werden.

Bruder oder Schwester aller heißt wirklich aller, unabhängig von Religions- oder Volkszugehörigkeit oder sozialem Status. Vielleicht war Bruder Karl sich des Ausmaßes seines Anspruchs gar nicht so bewusst, aber heute ist klarer denn je, dass in der Verwirklichung universaler Geschwisterlichkeit der entscheidende Schlüssel zum Frieden zu finden ist. Bei dem Besinnungstag vor 2 Jahren haben wir über die Beziehung des "Bruders aller Menschen" zum Islam nachgedacht. Es wird heute immer klarer, wie sehr der Weltfriede auch vom Dialog der Religionen miteinander abhängt. Aber überall da, wo Menschen respektiert und geachtet, Beziehungen aufgebaut und gepflegt werden, ein solidarisches Miteinander eingeübt wird und auf die Bedürfnisse anderer gehört wird, da wird ein Beitrag für ein friedliches oder friedlicheres Zusammenleben geleistet, da wird am Frieden gebaut.

Das Ferientreffen in Benediktbeuern war für mich auch ein wichtiger Baustein für ein friedliches Europa: - die Bereitschaft, sich intensiv zuzuhören in den Gesprächsgruppen - die Einübung von Toleranz, die einfach nötig ist, wenn so viele Menschen auf engem Raum zusammen leben - der Respekt vor dem Einzelnen und seinen Einstellungen - gegenseitige Hilfe (z.B. bei Fahrgemeinschaften) - der Besuch in Dachau, der einigen Teilnehmern fast 60 Jahre nach Kriegsende deutlich machte, dass die Deutschen nicht nur Täter, sondern auch Opfer waren, und zugleich die Einsicht bescherte, dass Lager wie Dachau auch heute noch existieren, auch in unserer Zeit immer noch solche Gräuel vorkommen, oder aber zu Ermutigung wurde, auch die eigene nationale Geschichte deutlicher anzuschauen...

Ich möchte noch ein weiteres Frieden stiftendes Element im Leben Bruder Karls erwähnen: Im Zuge eines Massakers von Tuareg an französischen Soldaten hatte ein Freund Foucaulds sein Leben gelassen, ein anderer war meuchlings ermordet worden. Dennoch schreibt er an den Marquis de la Roche Tholon: "Ja, ich befinde mich unter diesen Völkerschaften, die meinen Freund getötet haben, und räche ihn, indem ich ihnen das Böse mit Gutem vergelte, indem ich mich bemühe, ihnen das ewige Leben zu geben."
Hierbei spielt sicherlich eine Rolle, dass Bruder Karl zuvor zutiefst beeindruckt war von der Nächstenliebe einer Tuareg-Frau. Von Major Laperrine hatte er erfahren, dass nach dem Massaker an französischen Soldaten eine Frau aus einer vornehmen Tuareg-Familie ein sehr edles Verhalten an den Tag gelegt hatte: sie widersetze sich der Tötung der Verwundeten, nahm sie zu sich und pflegte sie, verweigerte einem Tuareg, der die Verwundeten töten wollte, den Eintritt in ihr Haus und veranlasste nach deren Genesung ihre Rückkehr nach Tripolis.

Die zweite Achse in der Spiritualität Charles de Foucaulds, auf die ich aber hier nicht näher eingehen möchte, ist die zentrale Bedeutung des Gebets. Der kontemplative Blick auf die uns umgebende Wirklichkeit hat eine Wurzel in Gebet und Anbetung und mündet in Gebet und Anbetung. Zugleich ist er Antrieb für unseren Einsatz für Frieden und Gerechtigkeit, ein Antrieb, der aus unserem Innern, aus dem Herzen kommen muss, wenn unser Engagement nicht hohl bleiben soll. Im Gebet vereinen wir uns mit dem Leben spendenden und Frieden stiftenden Gott, um den göttlichen Erlösungswillen durchzusetzen. Das kann uns innerlich verändern.

(verwendete Literatur: J.-F. Six, Das Leben von Charles de Foucauld)